Lesezeit: ca. 12 Minuten | veröffentlicht: 22.09.2021 | aktualisiert: 29.09.2021
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist die Annahme, dass du zum Visualisieren Zeichenkenntnisse brauchst. Aber: Funktionelle Visualisierung unterscheidet sich grundlegend von der künstlerischen Zeichnung.
Bei Visualisierung im Job geht es Anschaulichkeit, ums Verstehen und Verstanden werden. Es geht nicht ums Zeichnen, es geht um Kommunikation:
- Um das Vermitteln von Ideen in einer Präsentation,
- um das Klären von Fragen in einem Gespräch,
- um das Erschließen von Lerninhalten für eine Prüfung.
Visualisierung in diesen Anwendungen ist zweckgebunden und zielgerichtet. Das unterscheidet sie von freien, künstlerischen Zeichnungen. Bei denen steht die Ästhetik im Mittelpunkt, bei funktioneller Visualisierung die Bedeutung.
Die Frage bei Visualisierung ist also: „Wie kann ich die Bedeutung klarmachen?“ und nicht: „Wie zeichne ich es besonders hübsch?“
1. Visualisierung braucht keine Zeichnungen
Das Visuelle an visuellen Notizen ist die visuelle Struktur:
Das Visuelle an einem visuellen Tagesplan ist die visuelle Struktur:
Das Visuelle an visuellen Planungsmethoden ist die visuelle Struktur:
Alle drei Anwendungen sind praktische Beispiele visuellen Denkens und visuellen Arbeitens. Es sind Beispiele aus dem Alltag, bei denen es um Effizienz und Klarheit geht. Alle drei Anwendungen kommen prinzipiell OHNE Zeichnungen aus. Sicher, es schadet nicht, wenn sie Symbole oder Grafiken enthalten – notwendig ist es aber absolut nicht!
Besser, du nutzt das Prinzip der visuellen Struktur ganz ohne Zeichnungen und machst dir so das tägliche Arbeiten leichter, statt aus Sorge vor der eigenen (vermeintlichen) „Talentlosigkeit“ Visualisierung als Werkzeug gar nicht zu verwenden.
Lass dich nicht einschüchtern von einem falsch verstandenen Anspruch an die Ästhetik: Wenn du deine Gedanken auf einem Blatt visuell strukturierst, dann machst du sie:
- sichtbar und
- räumst du sie auf.
Alles, was aufgeräumt ist, trägt eine eigene Ästhetik in sich. Ästhetik beim Visualisieren ergibt sich durchs Ordnen, nicht durchs Zeichnen.
2. Visualisieren bedeutet optisch strukturieren
Visuelle Struktur bedeutet, sich vom rein linearen Schreiben (und Denken und Organisieren) zu lösen. Du denkst mehr in der Fläche, vergleichbar mit einer Landkarte. Es bedeutet, dass du wichtige Aufgaben zum Beispiel größer darstellst als unwichtige und ihnen damit optisch mehr Fläche einräumst. Oder dass du zusammengehörige Informationen auch räumlich näher zusammenstellst.
Visuelle Struktur gibt Orientierung auf den ersten Blick.
Punkte in einer linearen Liste erscheinen visuell oft gleichwertig (Spiegelstrich + Text), auch wenn sie das inhaltlich vielleicht gar nicht sind. Außerdem passiert es beim Runterschreiben einer Liste ganz schnell, dass Inhalte, die eigentlich miteinander zu tun haben, nicht zusammenstehen, sondern kreuz und quer in der Liste verteilt sind.
Die menschliche Wahrnehmung kommt mit Listen schlechter klar als mit geclusterten Informationen, wenn es ums Verstehen geht.
Bei einer visuellen Struktur bist du frei, bestimmten Aspekten mehr Raum zu geben oder sie optisch zu gewichten. Springen deine Gedanken zwischen verschiedenen Themen hin und her, hast du die Möglichkeiten, alles passend zuzuordnen, weil du nicht untereinander schreibst, sondern auf dem Blatt verteilt. Prioritäten, Muster und Zusammenhänge erschließt du dir damit viel einfacher und schneller.
3. Visuelle Struktur braucht keine Zeichnungen
… sondern einfache Gestaltungsprinzipien. Struktur in visuellen Notizen heißt aufräumen und das Auge so zu lenken, dass klar ist, in welcher Reihenfolge es die Inhalte betrachten soll. Visuelle Hierarchie ist da das Stichwort.
Wofür brauchst du visuelle Hierarchie?
Bei einem linearen Text gibt es nur eine Leserichtung. Das ist bei einer flächigen, nicht rein linearen Aufteilung anders: Das Auge springt auf dem Blatt ersteinmal ziellos von Punkt zu Punkt, wenn es keine Hilfestellung bekommt. Mit der visuellen Hierarchie gibst du dem Auge Orientierung. Du legst fest, welche Punkte die Hauptrolle spielen, welche eine unterstützende Nebenrolle haben und in welcher Reihenfolge sie betrachtet werden sollen. Du priorisierst Inhalte und Elemente und zeigst so, welchen visuellen Weg das Auge gehen soll. Diese bewusst gesetzten Punkte dienen als visuelle Anker.
Folgende Elemente helfen dir, eine visuelle Hierarchie herzustellen:
Größe
Ist etwas größer als der Rest, wird es automatisch als wichtiger empfunden. Das ist zum Beispiel durch die Verwendung von GROSSBUCHTABEN möglich, aber auch einfach durch größer geschriebene Buchstaben. Solche Inhalte heben sie sich visuell von der restlichen Notiz deutlich ab und lenken die Aufmerksamkeit und das Auge.
Kontrast
Kontraste ziehen ebenfalls mehr Aufmerksamkeit auf sich. Bei Schrift kann das zum Beispiel durch die Wahl eines dickeren Stiftes passieren oder durch das Nachzeichnen von Buchstaben. Auch Weißraum kann helfen, Kontraste herzustellen. Das sind die freien Flächen, wo nichts steht. Dabei lässt du um eine »Inhaltsinsel« (also etwa einen Textblock) herum bewusst Platz. Wenn nicht alles eng zusammensteht, hilfst du dem Auge zu erkennen, wo ein Inhalt aufhört und der andere anfängt. Durch Weißraum kannst du Inhalte sehr einfach voneinander trennen.
Farbe
Mit Farbe kannst du das Auge ebenso lenken. Achtung: Es gibt einen Unterschied zwischen farbig und bunt. Wenn du es sehr klar haben willst, dann benutze eher nur zwei, maximal drei Farben. Hervorragend für die Orientierung ist es, wenn du bestimmten Farben eine eigene, feste Bedeutung in deinen Notizen zuordnest.
Zum Beispiel könnte Orange für eigene Ideen stehen, Blau für wichtige Fakten, Gelb für Dinge, die du noch erledigen musst, Grün für schon Erledigtes.
4. Einfache Formen statt komplexer Zeichnungen
Mit Linien, Rahmen und Pfeilen kommst du unglaublich weit, wenn du visuell Bedeutung und Verständnis schaffen willst. Dafür brauchst du keine einzige bildhafte Zeichnung, keine Symbole und keine Piktogramme. Einfache Formen reichen völlig aus, um Inhalte verständlich darzustellen. Das kann schon ein schnell gezeichnetes Rechteck als Textrahmen sein oder Pfeile als Verbinder.
Auch wenn du etwas sehr spezifisches ausdrücken möchtest, kannst du die Visualisierung dazu sehr einfach halten. Stell dir vor, wie fasziniert dein Publikum wäre, wenn du diese einfachen, handgemachten Grafiken in deine PowerPoint-Präsentation einbaust und den folgenden Text einfach dazu sprichst, statt ihn auf die Folie zu setzen:
5. Symbole? Leben auch von der Einfachheit!
Symbole sind sehr reduzierte, einfache Zeichnungen. Sie bilden nicht die Natur ab, sondern ein Klischee, eine holzschnittartige Repräsentation, eine Verallgemeinerung. Der Vorteil: Sie sind leicht erkennbar, weil sie nur das absolut Notwendige umfassen. Je mehr Details, desto länger muss sich unser Gehirn damit beschäftigen. Je weniger (unnötige) Details, desto schneller sind wir im Erkennen. Wenn es dir also wichtig ist, dass sich die Bedeutung schnell erfassen lässt, solltest du es einfach halten.
Auch für Symbole musst du nicht künstlerisch zeichnen können. Es ist vollkommen ausreichend, wenn es erkennbar ist. Schauen wir uns mal ein Beispiel an:
Wodurch wird ein Vogel erkennbar?
Oder anders gefragt: Woran erkennst du, dass etwas ein Vogel ist und keine Giraffe, Lokomotive oder Haus? Wodurch unterscheidet sich ein Vogel von den genannten Dingen?
Wie wäre es damit: Schnabel, Flügel, Füße oder die Körperform als Silhouette. Reduzierst du dich auf wesentliche Merkmale, kommst sehr leicht auf ein mögliches Symbol für „Vogel”. Je weniger unnötige Details du hast, desto symbolhafter und desto einfacher zu zeichnen ist ein Vogel. Es ist keine Amsel, kein Storch, kein Habicht. Es ist die Oberkategorie Vogel.
Übrigens: Auch und gerade(!) in der Logo-Entwicklung ist Vereinfachung ein wichtiges Prinzip. Schließlich geht es auch hier um sofortige Wiedererkennbarkeit:
Evolution des Twitter-Logos, gefunden auf justcreative.com
Das Schöne ist: Für Visualisierungen im Beruf brauchst du normalerweise nur Oberkategorien. Du brauchst also nicht detailliert zeichnen zu lernen, sondern kannst auf das zurückgreifen, was du schon kennst und in dir trägst: Dein erworbenes Symbolsystem.
„Hää? Wie jetzt?”
Ja, ja, auch du hast eines. 😀 Fakt ist: Unser persönliches Symbolsystem eignen wir uns in unserer Kindheit an. Wenn du also als Vierjährige gezeichnet hast, kannst du ohne Probleme visualisieren.
6. Nicht zeichnen zu können ist ein Vorteil
Das Problem, dass ich in meinen Visualisierungskursen immer wieder feststelle, ist nicht, dass jemand nicht realistisch zeichnen kann. Die eigentliche Herausforderung ist, zu akzeptieren, dass es für funktionelle Visualisierung tatsächlich nicht mehr braucht als die (reaktivierte) symbolhafte Kinderzeichnung. Und die ist nun mal nicht realistisch, sondern reduziert.
Genau dieses Reduzierte in der Kinderzeichnung kommt dir vielleicht plump vor, irgendwie „nicht richtig“ etc. Dahinter steckt der Wunsch, wirklichkeitsgetreu zeichnen zu können. Diesen Wunsch entwickeln so ziemlich alle alle Kinder mit etwa zehn bis elf Jahren. Sie wollen so zeichnen, dass es perspektivisch korrekt ist, dass die Proportionen stimmen, dass gezeichnete Portraits den Portraitierten gleichen. Je (foto-)realistischer, desto besser.
Bekommen sie dann nicht gut genug gezeigt, wie das geht, ist das genau das Alter, in dem die meisten aufhören zu zeichnen. Die meisten Erwachsen in den „westlichen“ Kulturen kommen nie weit über das Niveau hinaus, das sie als Neun- bis Zehnjährige erreicht haben. Kinder zeichnen wie Kinder, und die meisten Erwachsenen zeichnen ebenfalls wie Kinder – und zwar unabhängig davon, wie weit sie es in anderen Lebensbereichen gebracht haben.
Die gute Nachricht: Das, was uns damals das Zeichnenlernen schwergemacht hat, macht uns heute das Visualisieren mit Symbolen einfach: Das Symbolsystem, das wir in unserer Kindheit zwischen ungefähr dem zweiten und dem zehnten Lebensjahr entwickelt haben.
Wie das?
Von Kindheit an haben wir gelernt, Dinge zu benennen. Du wirfst einen kurzen Blick auf etwas und sagst: „Stimmt, das ist ein Vogel (Stuhl, Baum, Regenschirm, Hund usw.)“. Damit aktivierst du das verbale System in deinem Gehirn. Diese Hirnregion wünscht sich nicht zu viele Informationen über wahrgenommene Dinge – gerade genug, um sie wiederzuerkennen und zu kategorisieren.
Ein großer Teil der kontextuellen Wahrnehmung wird ausgeblendet, beim Vogel beispielsweise die Struktur des Gefieders oder die spezifische Form des Amselschnabels. Das ist ein notwendiger Prozess, der dir erlaubt, deine Aufmerksamkeit zu bündeln. Sehr effizient also.
Diese im Kopf verankerten Symbole machen uns das künstlerische Zeichnenlernen schwer. Statt zu beobachten, wie etwas wirklich aussieht, greifen wir auf das vereinfachte Konzept in unserem Kopf zurück. Das Wissen gewinnt die Oberhand über das Sehen.
Und genau das machen wir uns bei funktionellen Visualisierungen zu nutze: Unser Wissen. Die bereits vorhandenen generischen Konzepte im Kopf. Wir müssen nicht den Turmfalken zeichnen lernen, uns reicht „der Vogel an sich“.
Fehlende Zeichenkenntnisse sind also kein Hindernis fürs Visualisieren, sondern ein guter Grund dafür.
7. Üben, üben, üben
Wenn deine Kindheit schon eine Weile zurückliegt, dann ist dein Symbolsystem zwar vorhanden, aber vielleicht ein bisschen eingerostet. Das ist wie beim Fahrradfahren. Wenn du 20 Jahre nicht mehr auf einem Rad gesessen hast, beherrschst du es immer noch, es fühlt sich aber erstmal umgewohnt an. Die ersten paar Meter wirst du dich unsicher fühlen und ein bisschen herumeiern. Je länger du auf dem Sattel sitzt, desto leichter wird es dir fallen und desto mehr Spaß wird es dir machen.
Das gleiche gilt beim Visualisieren: Um beispielsweise einen Vogel gleich aus dem Kopf zeichnen zu können, brauchst du Übung. Untersuchungen legen nahe, dass dafür rund 50 Wiederholungen nötig sind. Je seltener du ein Symbol nutzt, desto häufiger musst du es üben, um es bei Bedarf aus dem Handgelenk schütteln zu können.
Die Alternative dazu ist, dir einen Spickzettel mit einer Handvoll für dich nützlicher Symbole anzulegen. Dafür brauchst du werder Talent noch Zeichenkenntnisse, sondern das Wissen aus deiner Kindheit und den Willen zur Umsetzung.
Du brauchst noch ein bisschen mehr Anleitung? Dann lade dir meine kostenlose Starthilfe herunter:
Darin findest du nur die absolut notwendigen Elemente für visuelle Notizen. Für dich vorgefiltert und ausgewählt, damit du sofort starten kannst. Inklusive Vorlage für deinen persönlichen Spickzettel.
Ich wünsche dir viel Spaß damit!
Zum Weiterlesen:
Was sind visuelle Notizen?
Im Artikel gehe ich auf die acht wichtigsten Punkte ein und zeige dir, was wichtiger ist als zeichnen.
Fühlst du dich talentfrei?
Wie du funktionelle Visualisierungen (z. B. Sketchnotes) ganz ohne Zeichnungen für deine Arbeit nutzen kannst.
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